gisela schattenburg

Christoph Tannert
Gisela Schattenburg / Spiel der Kräfte / Kohlezeichnungen

 

Die Welt ist nicht in Ordnung.
Aber können Künstler etwas dagegen tun?
Oder: Was bedeutet das für die Kunst?

Vor dem Hintergrund materialmanischer Werkzyklen, geräuschintensiver Kunstentäußerungen und allzeit sprungbereiter Kunstnomaden am offenen Grab der Biennalen, legt die Ausstellung „Spiel der Kräfte“ von Gisela Schattenburg ein Zeugnis ganz eigener Sinnlichkeit ab.
Künstler haben seit jeher mit offenem Visier gegenüber dem Chaos der Welt ihr Innerstes zum Gegenstand ihrer Kunst gemacht.

Das Zeichnen mit dem Reiskohlestift ist Ausgangspunkt für die Ausflüge der Künstlerin durch Weltkreis und menschliches Innenleben – „lautlos und fließend“.

Aus der Serie „Kraft . Zeit . Raum“ sehen Sie Werke der Jahre 2007 bis 2013 – Einzelblätter und Diptychen. Die enorm verdichteten Strichlagen auf großen weißen Papieren sind Landebahnen ihrer denkenden Zeichenhand. Blatt für Blatt gräbt sich Gisela Schattenburg in die Tiefe innerer Stille, horcht hinein ins Bodenlose während sie Linien verwirbelt. Sie betreibt Energieaustausch, komprimiert. Im hellen Licht der Bilduntergründe verstrickt sich das Unsichtbare, verwandeln sich Stimmungen in Zeichenkürzel. Es geht gelegentlich heftig zur Sache. Achtung: Schneewehen! Ameisenstraßen! Strudel! Ist die Künstlerin in Gefahr? Ist unser Augensinn gefährdet? Eher nicht. Hinschauen, mitsehen, sich einsehen sind eher gefahrlose kreative Unternehmungen.
Gisela Schattenburg lässt das Mögliche geschehen. Es fordert ihre und unsere Aufmerksamkeit. So lassen sich Bilder und Erfahrungen austauschen.

Diese Blätter sind schützender, Gefühle bergender Wald, Unterholz, aber auch Wegweiser durch den Wald, denn sie erlauben den Grenzübertritt von einem Zustand zum anderen.

Der Sinnzonen überlappen sich. Die Zuordnungen beginnen sich zu verströmen. Wir gehen über ins Uferlose, das eigentlich nur durch den Rahmen gebremst wird. Wir können imaginieren, dass es höchstwahrscheinlich hinter der Schattenfuge weiterströmt.
„Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden“, schrieb Hölderlin im Hyperion. In Gisela Schattenburgs Kohlezeichnungen wird der Gipfel freudiger Erregung, die Dynamik, die sich aus der Natur der Kunst und der „Poesie der Gegensätze“ ergibt, neu in Erinnerung gerufen. Wer in der rechten Stimmung ist, auf den springt die im „Spiel der Kräfte“ liegende Begeisterung des Welt-Bewegenden vielleicht über.

Für einen Moment, den z.B. Kunstsammler kennen, fühlen wir uns dann diesem  Glückszustand nahe und jedes Blatt breitet ihn in schlichter Sinnlichkeit vor uns aus.

Gisela Schattenburg arbeitet betont körperlich. Zwischen Kunst und Leben gibt es bei ihr keinen Vorhang. Ihre Bilder gleichen einem wilden, guten Groove. Schon im Atelier werden sie mit Musik infiziert. Hier Klassik, dort Rock. Offbeats und Hintergrundmelodien, indirekt und warm. Es ist ein schwimmender, undurchsichtiger Sound, der aus den Bildlabyrinthen antwortet. Zuweilen Gestrüpp. Keine Melodie-Linien. Dafür: Haarlinien, Liniengewöll, Gestöber, Striemen.
Im Hintergrund scharrt ein furchterregendes Tier mit den Hufen.
Hinter jeder Harmonie lauert das Affekthafte, Chaotische, hinter jedem Ausbruch eine versöhnliche Geste. Fast scheint es, als müsste sich Gisela Schattenburg ab und zu erst einmal Platz schaffen um die Ellenbogen.
Ihre Zeichnungen verlangen ganzen Einsatz.
Mal streicht die Künstlerin sanft über’s Papier, mal inszeniert sie den Störfall – drängerisch, aggressiv. Es gibt meditative Passagen. Und dann den Wechsel in den Hellwach-Modus, der plötzlich Schärfe und Härte in den Strichdschungel bringt.

Die Künstlerin schlägt Haken, operiert in Widersprüchlichkeiten.
Erst hat man den Eindruck, alle Energie des Raumes flösse in diese Blätter hinein - und dann sprudelt sie plötzlich wieder heraus, wie aus einem spontan aufbrechenden Quell.

So entsteht in dieses Kunstwerken die Spannung des Augenblicks. Es sind Bilder, die atmen, zittern, beben – im Fluss der Zeit.
Alles kreist um Seinszustände -  Gefühle, seelische Häutungen, Unterwegssein, den Versuch, Boden unter den Füßen zu gewinnen, durch das Leben zu wandern, Heimat zu finden, neues und neues und immer wieder neues Ansetzen und vielleicht Wurzelschlagen.
Das alles ohne Theater, ohne Erzählungen, ohne Abbildhaftigkeit, ohne äußerliche Anlehnung an Naturerscheinungen. Gisela Schattenburgs Zeichnungen sind ebenso abstrakt wie konzentriert.
Aber nicht voraussetzungslos. Gisela Schattenburg kommt aus der Malerei. Ihre Wurzeln liegen in der Konkreten Kunst. Nach ihrer konsequenten Absage an Farbe hat sie im grafischen Hell/Dunkel ihr Leitmedium gefunden.

Kohlestift und Hand sind die Begleitinstrumente im Prozess der Aneignung. Die entstehenden Striche werden dabei unmittelbarer Ausdruck.
Übrigens: Linien, die mit dem Reiskohlestift gezogen worden sind, können nicht radiert werden. Eine Reiskohlespur, die sich einmal auf dem Papier befindet, bleibt. Nichts kann versteckt, höchstens von anderen Spuren überlagert werden.

Gisela Schattenburg beherrscht ihr Instrumentarium quasi blind. Die Hand weiß genau, was sie tut, wenn sie "kopflos" auf dem Tastenwerk der Seele spielt und fremde, vertraute innere Strukturen und Bilder wiedergibt.
Die Abbildung von Äußerlichkeiten wird dabei vernachlässigt.
Was nicht heißt, dass das Publikum nicht dieses oder jenes in ein Bild hineinsehen kann.

Zuweilen vermischen sich diese Bilder mit der eigenen Erinnerung, die Assoziation mit der Wirklichkeit des Materials. Man glaubt, sich selbst an verinnerlichte Landschaftsformationen oder auch an bestimmte Atmosphären zu erinnern, ohne sie hier vor Ort zu erfahren.
Dann fragt man sich: Sind es Gisela Schattenburgs Bilder? Sind es meine? Sind es unsere?

Gisela Schattenburg ist eine Spezialistin für emotionale Orkane wie für das Pianissimo der Erwartung.

Die Zeichnungen dieser Künstlerin schaut man nicht einfach so an.
Man tut gut daran, sie zu meditieren, im Nachgang ihrer Linien den Geist zu entspannen, Denkmuster ruhen zu lassen, sie zu träumen.
Schweigen Sie einen Moment und lassen Sie sich von diesen Linien entführen.

(Rede zur Ausstellung Spiel der Kräfte im Kunstverein Kunsthaus Potsdam, 2013)