gisela schattenburg

Andreas Hüneke
Spiel der Kräfte in sanfter Schwebe

 

Gisela Schattenburg hat Worte gesammelt, die irgendwie zu ihren Arbeiten passen. Eins davon heißt „Spiel der Kräfte“. In seiner 1926 erschienenen Schrift „Punkt und Linie zu Fläche“ bezeichnet Wassily Kandinsky die Kraft als „die Urquelle jeder Linie“ und beschreibt das Zusammenwirken mehrerer, in unterschiedliche Richtungen zielender Kräfte als die Bedingung für Dynamik. „Die Mitarbeit der Kraft an dem gegebenen Material führt in das Material das Lebendige ein, das sich in Spannungen äußert.“ Dies ist nur einer seiner Gedanken, die auf die Zeichnungen von Gisela Schattenburg zutreffen, ja geradezu für sie formuliert zu sein scheinen. Das zeigt, dass seine nur scheinbar trockenen Theorien in Wahrheit auf einer Fülle sehr feiner Beobachtungen beruhen.

 

Die Linie ist das Grundelement der Zeichnung. Wir wissen freilich, dass mit dem flach geführten Stift, durch Verwischen oder Lavieren in der Zeichnung auch Flächen oder Valeurs erreicht werden können. Aber das ist nicht die Sache Gisela Schattenburgs. Sie konzentriert sich bei der Zeichnung ganz auf die Linie, so wie sie in der Malerei bisher die Linie ausschloss und allein die Farbe zur Geltung brachte. In einigen neueren Arbeiten wurde über solche Malerei aus der Farbe eine lineare Zeichnung gelegt. Sie wirken zusammen, aber ihre Elemente vermischen sich nicht. Dieser gewisse Purismus mag der Künstlerin noch von der konkreten Malerei geblieben sein, mit der sie ihren Weg begann, und an die sonst heute nichts mehr erinnert.

 

Eigentlich waren die Mittel bei den ersten Kohlezeichnungen, die im Jahr 2000 das Himalaja-Erlebnis verarbeiteten, alle schon da: die kräftigen, sich überkreuzenden und verdichtenden Strichlagen mit der Reißkohle und die Richtungs- und Helligkeitskontraste. Aber trotzdem hat sich seitdem eine grandiose Entwicklung vollzogen.

Damals war noch das optische Erlebnis der Felsformationen mit ihren starken Schatten bestimmend, was den Zeichnungen von vornherein Statik und greifbare Festigkeit verlieh. Nach einer längeren Pause wurde dann 2006 ein neuer Ansatz gefunden.


Auch wenn der Serientitel „Unter der Haut“ noch an Gegenständliches erinnert, so ist doch deutlich, dass es mehr um verborgene Kräfte als um die Darstellung von Körperdetails geht. Die Linie, die in den Himalaja-Zeichnungen zum Teil auch noch Konturfunktionen übernahm, hat sich inzwischen davon vollständig gelöst. Eine gewisse Festigkeit ist zunächst noch geblieben, aber immer deutlicher tritt eine dynamische Gestaltung des Bildraums hervor. Das wird zunächst in kleineren und mittleren Formaten erprobt, bevor mannshohe Flächen den Aktionsrahmen erweitern. Die Reißkohle wird in energischen Schwüngen geführt. Diese Energie ist bestimmend, auch wenn die Kohle die Fläche nur leicht berührt und eine zarte graue Linie entsteht. Dabei gerät der Stift immer wieder kaum merklich ins Stocken und hinterlässt kleine dunklere Punkte, die den Linienfluss rhythmisieren. Durch gegenläufige Schwünge entsteht eine Art Raster, über das sich dunkle Striche in zuckenden Bewegungen legen.
Wirkten bei den Himalaja-Zeichnungen die Dunkelheiten als Schatten in der Tiefe, so liegen sie jetzt vor dem in der Helligkeit sich öffnenden unendlichen Raum. Das wird besonders deutlich, wenn sich das Liniengewirr, wie von einem Kraftfeld geordnet, nach einer Hauptbewegung ausrichtet, eine Helligkeit umkreist oder sich spiralförmig in sie hinein- schraubt. Selbst dann aber ordnen sich nicht alle Linien unter, und gerade die widerborstigen, sich querstellenden steigern das Erlebnis der dominierenden Bewegung.

Diese scheint sich „in sanfter Schwebe“ – wie ein anderes Wort aus der Sammlung der Künstlerin lautet – vor der Grundfläche des Bildes zu vollziehen.
Bei Kandinsky heißt es: „Das feste (materielle) Liegen der Elemente auf einer festen, mehr oder weniger harten und für das Auge tastbaren Grundfläche, und das entgegen gesetzte ‚Schweben‘ dieser nicht materiell wiegenden Elemente in einem undefinierbaren (unmateriellen) Raum, sind grundverschiedene, antipodisch zueinander stehende Erscheinungen.“

Das Auge des Beschauers könne im besten Fall beide Arten wahrnehmen, das„mangelhaft entwickelte Auge“ sei allerdings nicht imstande, „sich von der materiellen Fläche zu emanzipieren, um den undefinierbaren Raum aufzunehmen.“


Gisela Schattenburg macht es uns leicht, unser Auge zu üben, zu entwickeln, um die „Schwebeempfindung“, von der Kandinsky spricht, in uns wachzurufen.

Andreas Hüneke
(Text zum Katalog  gestürmte zeit  2012)