gisela schattenburg


Christoph Tannert Gisela Schattenburg

 

Alles ist Fortsetzung, Variation, Weiterentwicklung

Die Linie ist nach wie vor das dominierende, auch in Flächen immer spürbare Element in den Zeichnungen von Gisela Schattenburg.

Wenn man sich ihre Produktion der Jahre 2014 - 2019 anschaut, verhalten sich die aus einem kontrastreichen Hell/Dunkel wachsenden Serien zueinander wie inegalitäre Systeme großer Leichtigkeit, deren Vielfältigkeit aufgrund der Verteilung von Variablen Sinn ergibt, denn sie rechtfertigen sich selbst durch ihre abwechslungsreich konzipierten Spannungsbögen.

Die Künstlerin geht den Aufbau ihrer Serien mit systematischer Akribie an. Ihre syntaktischen Versuchsreihen zerlegen und bündeln „Kraft, Zeit und Raum“, wie die Blattfolge gleichen Titel von 2009/12 bereits anschaulich unter Beweis gestellt hat.

Gisela Schattenburgs zeichnerische Erfahrung auf dem Gebiet der Ästhetik wirkt zuweilen wie eine Parallelspur zu den Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie. Natürlich bleibt die sensorische Trennung der zwei Wahrnehmungsparadigmata Hören und Sehen erhalten, die Künstlerin unterläuft sie nicht. Aber wer einen bestimmten Sound im Ohr hat, wird ihn mit Neugier auf ihre Blätter applizieren.

Unter dem Titel „Nest“ (2014) gruppieren sich Werke, die sich auf das Risiko einlassen, das eigene Arbeitsprinzip zu erforschen. Diese Ebene der Untersuchung in der Art des Erkenntnisinteresses ist grundsätzlich allen Werken der Künstlerin inhärent. Angesichts des besonders ruppigen Einsatzes der Reiskohle tritt der Aspekt der Selbstbeobachtung hier aber mit Macht hervor. Man sieht Gisela Schattenburg so frei und kraftvoll agieren, wie der Blattwiderstand sie wendig macht. Es ist die Kohle, die sie wie einen Hammer hält, die zur Signalgeberin wird für die aktionistische Intervention. Jeder Punkt auf dem Blatt markiert den Ort des Auftreffens der Faust. Wuchtig und druckvoll spricht die Künstlerin ihre Urworte, um uns hernach mit Zartheit und Stille zu begegnen. So sieht sie sich selbst im Übergang, zwischen Entäußerung und Verinnerlichung.

Ein selbstbewusstes Subjekt entfaltet Schönheit aus dem Handgelenk. Die wirksame Faszination, die von solch einem Konzept ausgeht, liegt darin, dass sie eine zweckfreie Freude am Schönen unterstreicht, die das Vergängliche und Auslösemechanismen von Fluchtbewegung und Distanzierung nicht ausblendet.

„In Bewegung“ (2014/15) spezifiziert Wahrnehmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unter dem Gesichtspunkt des Darunter- und Darüberliegenden und der Attraktivität der Verknüpfung verschiedener Stufen. Geschwungene Linien greifen Raum in tänzerischem Strömen.

„Schwarz/Weiss und Weiss“ (2015) spitzt das Materialexperiment zu. Die Künstlerin hat die Fotoschicht von Alu-Dibond-Platten abgezogen und auf das darunter liegende Papier gezeichnet sowie zusätzliche Level aus Acrylweiß integriert. Das führt zu veränderten Fragestellungen und einer charakteristischen Bildaufteilung. Der Blick wird nun in Richtung der Bedingungen lanciert, die es ermöglichen, etwas als Gegenstand oder als Zeichen wahrzunehmen. In einer differenzierten Weise von Sinngebung wird im Davor und Dahinter Wirklichkeit durch eine Metaphysik des kosmischen Zusammenhangs noch stärker sichtbar. Der Einbau dieser visuellen Fragezeichen setzt der „gegenständlichen Wirklichkeit“ eine andere Wirklichkeit entgegen. Zwischen Bezeichnung und Vision, zwischen wirklichkeitsnahem Aspekt des Machen und der Belebung des Blattes durch ein offenes System von Strichcodes kommt es zu einer enormen Sogwirkung dieser Kunstwerke. Deren Maß der Gestaltfülle ist das Maß der Energie, die ein Blatt auflädt.

„Fragment“ (2017), dessen Wesenheiten Variabilität und Dynamik sind, ist auf Tiefenstaffelung orientiert. Der harsche Übergang im Doppelschritt von Strich und Überzeichnung zeigt die Künstlerin im Vollbesitz ihrer Zweifel. Mit schwungvollen Wischern startet der Aufbruch in die Ungewissheit. Im Auf und Ab von Papierweiß / Strich / Acrylweiß / Strich verschafft die Körnigkeit der Acrylfarbe der Oberfläche eine feine Haptik.


Zeitgleich zu „Fragment“ entstand die umfangreiche Serie "kontraer". Wenn eine Leidenschaft die Künstlerin treibt, dann ist es Wissbegier. Mehrmals hat sie in ihre Zeichnungen mittels Acrylweiß Störzonen und Auskratzungen eingebracht, um zu ergründen, was die Kunst ihr zu sagen hat und welche Alternativen aus dem Werk selbst geboren werden können. Traditionelles und Unerwartetes begegnen sich. Panta rhei – alles fließt.


In den kleinen und Mittel-Formaten ihres Konvoluts „Raum“ (2017) und 2019 noch einmal aufgegriffen im größeren A0-Format ist jedes Blatt von Phantasie und Ahnungen geprägt. Die Künstlerin streut ihren Schatz mit beiden Händen aus: Dunkel und Licht interagieren. Helle, pflasterartige Einsprengsel unterbrechen den gestalterischen Fluss, ohne die Harmonie des Ganzen, das ins Kosmische weist, zu stören.

In der Weiterentwicklung „Raum“ (2019) als einer Koppelung von Großformaten in A0 („Raum 20 + 21“) erfährt der existentielle Grundton eine erweiterte Dringlichkeit. Eine von rechts herein drückende Fläche wächst sich aus zu einem Kommentar der Verunsicherung.


Das Unfassbare zu fassen und Empfindungsfähigkeit anzuregen, ist dieser Kunst als ein fühlbares Anliegen eingeschrieben. Diese Blätter sind ein Dialogangebot für die Betrachtenden, ein Wahrnehmen der Vergänglichkeit, Ahnung des Unendlichen, das uns umgibt und die Konfrontation mit der menschlichen Begrenztheit und Endlichkeit.

Gisela Schattenburg arbeitet punktgenau, aber lebendig, dabei ohne artifizielle Attitüde. Sie bewegt sich wie eine Reisende in fremden, inneren Landschaften, ohne vorab zu wissen, wohin genau sie reisen wird und auf welche Weise sie dort hinkommen soll. Sie wählt einzig und allein die ihr angemessen erscheinenden Navigationsinstrumente und verlässt sich dann ganz auf ihre Intuition. Wenn sie ein Blatt vollendet hat, hat sie auch eine Bewusstwerdung durchlaufen. Sie kann sich dann selbst anders sehen: konzentrierter im Wollen und um eine Empfindung reicher. Ein Bemühen wurde in Gang gesetzt. Einzelheiten verdichtet. Das Stagnierende aufgebrochen. Wendungen vollzogen. Alles verwandelte sich. Aus dem Zufälligen erwuchs ein Wunschort.

Christoph Tannert (März 2020) ©